Mittwoch, 12. Dezember 2012

Der fremde Bekannte

Der Richter schaute auf mich herab, sah in mir den Verbrecher, der er niemals sein würde und sagte schon fast gelangweilt von meiner Gleichgültigkeit, die ich im Gerichtssaal ausstrahlte:
„Wollen sie noch etwas sagen, bevor man sie töten lässt?“
Ich schaute auf ihn ein mit meinem durchbrechenden Blick, der mit einem zarten Lächeln verziert war und antwortete kalt, sodass die Angehörigen erstarrten:

„Wie könnt ihr meine Fäden festhalten, während ihr mit Steinen werfen beschäftigt seid?“

Der Richter verstand nicht, doch interessieren tat es ihn auch nicht. Doch der Priester, der mir zur Verfügung gestellt wurde, warf mir einen verwirrten Blick zu.
Da niemand mehr etwas Relevantes zu sagen hatte, außer dass man mich abführen sollte, fühlte ich mich dazu verpflichtet, mich noch ein wenig mit dem Menschen zu unterhalten, der mit einem Podest über mir saß und sich dazu gezwungen sah, über mich zu richten.
Um auf seine göttliche Ebene aufzusteigen, stand ich auf, um als seinen Gegner, den Teufel, aufzutreten.
Die verwirrten Blicke der Geschworenen gaben mir den Testosteronkick, den ich brauchte, um mich auf meinen Beinen halten zu können. Dieser Gott mit verrutschtem Toupet konnte es einfach nicht fassen, doch um seine Fassung zu bewahren, schickte er die Wachen, seine Hyänen zu mir, um mich zu zerfleischen.
„Na, womit verdiene ich das Vergnügen? Seid ihr geschickte Boten, um den geschockten Boten wieder in gelassener Gewohnheit leben zu lassen? Ihr könnt mir gar nichts. Ich bin so gut wie tot. Das bedeutet, ich bin ein zwar toter, aber dafür freier Mensch und macht das das Leben nicht erst lebenswert, auch wenn ich diese Freiheit erst mit meinem Tod erlange?
Ich möchte euch noch kurz etwas erzählen, bevor ich endlich in Frieden zur Hölle fahren darf.
Ich spreche auch mit Absicht in dieses Mikrofon, damit auch die wollenden Tauben mich hören dürfen. Ich erzähle euch von den Dingen, die einen Scheiß wert sind, aber mich schlaflos halten.
Keine Sorge, es ist wie Studentenfutter, denn mein Gehirn ähnelt einem Magersüchtigen.
Die meisten Leute aus meiner Gegend kennen mich nicht und ich liebe es. Die anderen Leute kennen und hassen mich und ich weiß es. Aber es interessiert mich nicht. Diese Köpfe werden mir eh erst eine physische Existenz zutragen, wenn ich mich dem Mainstream anpasse und dem Strom hinterher schwimme. Im Moment jedoch bin ich ein toter Fisch auf dem Bordstein.
Niemand schenkt dir sein Interesse, solange du sie nicht mit Worten wie „Scheiße“ lockst.
Und wenn du Worte wie „Schwanz“ benutzt, scheinst du das falsche Publikum zu bekommen.
Ich finde es sehr interessant, denn letzten Endes handelt es sich bloß um Worte, Laute, die vom Menschen projiziert werden und von Menschen einen subjektiven Sinn verliehen bekommen. Man gibt bestimmten Worten mehr Gewicht als das, was man selbst auf die Waage bringt. Mein Gott, es ist so absurd. Genau dieser Hang zum Absurden führt mich in diesen Saal, zur der Exekutive, die über meine Schuld entscheiden sollen, nur weil ich Menschen mit meinen Worten in Nähe meines Schwanzes oder in den Wahnsinn, so mögt ihr es nennen, geleitet habe. Manche werden sich fragen, wo ist da der Unterschied?
Dieser klitzekleine Unterschied, so groß der Wahnsinn auch sein mag, ist irrelevant. Jedenfalls will ich nur eines loswerden:

Manche Menschen hörten meine Worte und dachten, es bedeute, sie würden mich kennen. Die Wahrheit ist, ich existiere nicht; Ich bin bloß der Puppenspieler in deinem Theater.
Ja genau, ich lasse die Puppen tanzen und ich bin mir sicher, es hat ihnen gefallen.
Aber dieses mentale Verbrechen, das ich tagtäglich ausübte, führt mich nicht hier hin.
Es ist mein Drang nach Bestätigung für mein sinnloses Dasein. Ich war hungrig und benahm mich wie ein Fuchs gegenüber dem Lamm, um von ihm zu hören, dass ich es wert bin zu leben, obwohl ich es doch nicht war.
Darum gehen diese letzten Worte an jeden, den ich enttäuscht habe und mit diesem Gefühl des Vermissens verlassen habe.
Meine Liebschaften, besten Freunde, Eltern und Geschwister.
Manchmal schwört uns das Leben, Lügner aus guten Menschen zu machen.
Ich entschuldige mich dafür, dass ich nicht dieser Jemand war, den ihr von mir erwartet habt.
Drauf geschissen, ich entschuldige mich dafür, dass ich nicht dieser Jemand war, den ich von mir erwartet habe.
Ich habe immer gesagt, Ich wäre immer für euch da, egal was passieren würde, aber das war nicht ehrlich, denn ich war es nicht. Aber so ist das Leben. Voller gebrochener Versprechen.

Ich wuchs also auf und dachte, ich wäre einer dieser guten Jungs mit guten Moralvorstellungen wie mit dieser Schwarz-Weiß-Sache in Amerika in den Siebzigern.
Aber ich wurde mit dem Verletzen anderer Menschen verflucht und strippte mit ihrem Stolz.
Aber nicht nur oberflächlich, sondern auch mit ihrem Herzen.
Ich wurde nicht bekannt gemacht mit meiner dunklen, unmoralischen Seite. Ich dachte, ich wäre ganz normal.
Doch Mensch sein bedeutet ein Drahtseilakt über der Rolle als Gott und Teufel, jenseits von Gut und Böse, denn das macht einen erst zu einer Originalkopie und befeit einen von den Schatten seiner Schatten.
Ich wurde also konfrontiert mit meinen Gefühlen und ich meine es, wie ich es euch sage, es war etwas total Neues für mich, was in dieser Welt nicht ausblieb.
Und in dieser Zeit meinte ich jedes Wort, so wie ich es sagte. Jedes „Ich liebe dich“ und jedes „Ich hasse dich“. Jedes Mal, als ich liebte oder ich wusste, dass ich es bereuen würde.
Doch wenn Zeit ihren Sinn verliert, so verschwinden auch die Gefühle und so wird man zum Lügner, weil man nicht mehr liebt und seine Versprechen nicht mehr halten kann.

Aber wie kann eine Lüge eine Lüge sein, wenn man es in dem Moment wirklich so gemeint hat? Ich meine, eine Lüge kann keine Lüge sein, wenn man es in dem Moment wirklich so gemeint hat.

Also besorgte ich mir ein Herzensbrecher Hotel mit all meinen unterwürfigen Angestellten. Keine Investoren, sondern bloß das „Lieb mich und dann verpiss dich“-Bed and Breakfast.
Ich schwelgte in lieblicher Erinnerung, überhaupt etwas geliebt zu haben. Doch das Problem ist nicht das Lagerproblem dieser Mätressen, denn sie verschwinden ja wieder, sondern das Lagerproblem meiner Last im Herz meiner einzig Geliebten, die wohl niemals ausziehen wird. Wenn sie und ich uns gestritten haben, war es wie ein Gewitter. Mit Donner und Blitzen.
Mit einem eisernen Willen; ein wahrer Kampf der Titanen. Die Emotionen überhitzten und jeder Muskel zitterte. Man war abhängig von der Spannung des Kampfes. Diese Aufregung, die uns beide ernährte und erregte.
Liebe schien anfangs ohne jegliche Verpflichtungen abzulaufen, doch man ist dazu verpflichtet, sich selbst zu lieben, sonst verliebt man sich bloß in die Idee, etwas zu lieben.
Und wir Beide jagten und hungerten nach diesem Gefühl, das uns so lebendig machte.
Doch irgendwann hat ihr Unterbewusstsein zu dir gesprochen und ihr befohlen, mich gehen zu lassen. Und als ich das erfuhr, schienen all diese Dinge, die in dieser Welt passieren, so prosaisch, trocken und fantasielos. Man ist verloren und steht nackt vor der Gesellschaft, doch es interessiert einen nicht. Um nach diesem lebendigen Gefühl zu jagen, prostituiert man sich, bis man wieder findet, doch man bleibt ziellos.

Ich habe wirklich alles verloren. Dieses liebliche und erschreckende Gefühl, das mich daran erinnert hat, dass ich lebe. Und man spürt, dass die Hölle einen Boden bekommt und der Himmel an Glauben verliert.

Ich habe zwar mit vielen Frauen geschlafen, jedoch machte es die Sache bloß zu einer schlechten Befreiung von dem guten Müll, den ich einst verehrt habe.
So sieht es aus. Ich bin ein Mann des schlechten Glaubens. Ein Mann, der schlecht an sich selbst glaubt. Ein Mann, der von der Bestätigung und Körperflüssigkeit vieler Frauen abhängig ist, um sich von der bittersüßen Abhängigkeit des klarsten Heroins befreien zu können.
Doch nun frage ich euch, Herr Richter, der viel zu sehr versucht, Gott zu spielen, mache ich mich zum Verbrecher, nur weil der Teufel nicht monogam lebt?“

Ich wurde abgeführt und mit jedem hasserfüllten Stein, den ihre Blicke mir zuwarfen, ließen sie auch das Seil los, das mich mein Leben lang festhielt. Ich hatte gewonnen, denn ich war unabhängig. Schon traurig, dass ich erst mit meinem Tod die Unabhängigkeit erreicht hatte.
Aber im Wort „traurig“ sah ich nicht umsonst die Worte „trau dich“.
Mit dem Überwinden meiner Angst und der sinnlosen Konfrontation mit meinem geplanten Tod hatte ich mehr erreicht, als sie je in ihrem Leben erreichen würden.

Sie trugen mich also hoch, steckten meinen Kopf zwischen die Holzbank und ich spürte die Guillotine über mir. Ich sah zu dem Marionettenspiel hinab, grinste sie an blickte dann zur Sonne.
Meine letzten Worte:
„Mama, auch dich habe ich belogen. Ich werde sterben. Wie jeder andere auch.“
Und die Guillotine ergriff mich, befreite mich von jeglicher Schuld und meinem belasteten Körper und beförderte mich ins ewige Nichts, wo ich sie alle wiederfinden jedoch niemals antreffen würde.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Follower