Freitag, 9. November 2012

Das einsame Schaf

„Es dauert noch etwas, bis Wunder aus der Erde wachsen.“ Sagte der Fuchs zu dem einsamen Schaf, das unaufhörlich auf das Gras starrte. „Ich warte nicht.“, versuchte das Schaf sich zu rechtfertigen. „Ich bedauere, dass ich mich nicht traue, das schöne Gras zu fressen.“
„Ach!? Hat der Bauer wieder das Gras gedüngt? Wenn dem so wäre, müsste die Heide bald voll von totem Festschmaus bestehen“, dachte sich der Fuchs laut.
„Darum geht es mir nicht. Ich bringe es nur einfach nicht übers Herz, dieses Gras zu essen, weil Pflanzen immerhin auch Lebewesen sind“, jammerte das Schaf.

„Ich beginne zu begreifen, wie dumm und naiv du doch bist. So jemanden wie dich kann ich einfach nicht vernaschen. Du bist mir zu leichte Kost. Aber trotzdem bin ich nicht umsonst den weiten Weg von dem Baum dort drüben bis hierhin spaziert, denn ich werde dich etwas lehren“, versprach der Fuchs voller Selbstbewusstsein.

„Ach ja!?“, flüsterte schon fast das Schaf: „Ich bin gespannt.“
„Dann entspann dich! Du bist hier immerhin nicht auf dem Schlachthof! Na gut, höre mir zu. Dieses Gras, das du da essen sollst, kann dir nicht sagen, ob es gefressen werden will. Das haben dir die anderen Schafe eingetrichtert, um fetter zu werden. Meinst du etwa, unschuldige Lämmchen lassen sich ungern vernaschen? Wo denkst du hin? Sie lieben es! Genau so sehr, wie ich.
Sie mögen zwar Widerstand leisten, jedoch ist es selbstverständlich. Immerhin fresse ich kein Lamm, das sich selber kocht und mich zum Tische ruft. Das wäre für beide Beteiligten ein langweiliges Spiel. Darum dieser Widerstand. Je resistenter dieses Lämmchen mir ist, umso cleverer muss ich versuchen, es zu umgarnen, bis es nicht mehr anders kann, als mir in den Mund zu springen. Das mag zwar jetzt alles unmoralisch und böse klingen, aber so sind die Regeln der Natur.
Mache ich mich zum Verbrecher, nur weil ich weiß, wie man dieses Spiel spielt?
Diese Natur besteht aus einem ewigen Kreislauf von Leben und Tod, Entstehen und Vergehen, Lust und Schmerz. Eine Urkraft, die das Rad des Seins in Bewegung hält. Und du bist ein Teil davon. Und das Gras nicht zu fressen ist so dumm wie eine Revolution im Kommunismus.
Du schätzt gar nicht, wie schön der Genuss von frisch geschnappter Beute schmeckt, aber dieses Gefühl kennst du beim nicht bewegenden Gras wahrscheinlich nicht.
Lass es mich anders veranschaulichen.
Dein fünftes Bein möchte doch bestimmt mal Bekanntschaft mit einer jungen Schafdame machen. Schau mich nicht so schamhaft an. Das Begehren begehrt, wessen es bedürftig ist und Reproduktion deiner Art gehört zu den Grundbedürfnissen des Lebens. Dein Problem ist nur, die Herde hat dich viel zu sehr verweichlicht. Sieh mich an. Ich bin das einsame Schaf. Ich töte dich mit Wattebällchen. Sei doch mal ehrlich, willst du weiterhin so bleiben?
Pssst. Bleib ruhig. Du brauchst nicht zu antworten, das war eine rhetorische Frage.
Wir beide kennen die Antwort. Zuerst einmal brauchst du ein neues Aussehen. Geh mal wieder zum Bauern und lass dir die Seiten rasieren, das ist momentan der letzte Schrei. Mach mal öfters einen Spaziergang, deine Beine ähneln den Grashalmen. Lass dich davon aber nicht unterkriegen. Ich bin auch nicht der Best-Aussehendste. Schau mich nicht so verwundert an. Das war höfliche Bescheidenheit.
Du sollst nur anfangen, dich wohl in deinem kleinen, dürren Etwas von Körper zu fühlen. Noch viel wichtiger: Du musst lernen, deinen Charakter mehr zu schätzen. Denn erst dann wirst du selbstbewusster ans Werk gehen. Selbstbewusstsein ist der Schlüssel. Und zwar genau der zum Hinterhof, wo alle Schafdamen hausen. Den kannst du mir gerne mal borgen, wenn du mit ihnen durch bist. Ich bekomme nämlich langsam Hunger. Aber Schluss damit.
Fang an, deinen Trieben zu folgen.
Gelegenheit, du starke Versuchung – entführe mich. Koste jeden Moment dieses bisher armseligen Lebens aus und das Gras wird dir besser schmecken als je zuvor.
Du musst wissen, nicht fürchten, dass du eines Tages sterben wirst. Das ist dein Leben und es endet Minute für Minute.
Und bisher tötest du nur Zeit. Du Mörder, lässt das dir unterlegene Gras am Leben, während du innerlich verwehst.
Ich seh’ schon an deinem lustvollen Blick: Du hast Lust auf viel Sex.
Vergiss’ das mal ganz schnell wieder, denn sonst hätte ich dir gesagt, du hättest dir ein Handtuch mitnehmen sollen. Ich lehre dich hiermit nicht die Verführung, um aus Sport zu ficken, sondern um dich zu verlieben.
Ja genau. Ich glaube an die Liebe. Jedenfalls an ihre gewaltige Macht, die dich mit Glücksgefühlen beschmücken kann. Aber vorerst die wahre Definition von Liebe, mein kleiner naiver Freund, denn die Herde hat dich getäuscht. Gewöhn dich am besten daran, denn der Weg, den du bestreiten wirst, wird von Neid gepflastert sein.

Liebe ist die über die Wasseroberfläche des Unbewussten ragende und von unserem bewussten Selbst getarnte Spitze eines Eisberges, welcher aus verschiedenen im Instinkt fußenden Gefühlen besteht. Liebe kann für die einzelnen Tiere deshalb etwas völlig unterschiedliches sein.
Es liegt in deiner Verantwortung, sie erstens von schädlichen Bestandteilen frei zu halten und zweitens nur jenen Schafdamen zu geben, die sie auch verdienen. Doch es wird langsam spät und das Gewitter, das du da zu hören glaubst, ist mein Magen. Halte dich an mein Wort und du wirst ein glückliches Schaf, das die Einsamkeit überwindet. Und wer weiß, vielleicht bist du eines Tages das Schaf, das ich vor lauter Begierde zu vernaschen versuche. Dann werden wir uns als Konkurrenten gegenüberstehen. So ist der Lauf der Dinge. Am besten läufst du voraus. Es wird Zeit, zu verschwinden. Man kriegt sich.“

Der Fuchs verschwand in der Herde der Schafe und das damals einsame Schaf lächelte zum ersten Mal in seinem bisher lustlosen Leben. Denn es wurde auch Zeit für das Schaf, auf die Schafsjagd zu gehen, um seine Königin zu finden.

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