Montag, 23. Juli 2012

Falscher Plastiktraum (Märchen)

In einer falschen plastischen Welt lebte ein kleiner Junge, der jeden Tag im falschen plastischen Garten spielte. Dort gab es unzählig viele falsche Plastikbäume, die immer gleich aussahen und sich nie veränderten. Sie sahen perfekt aus und waren parfümiert. Der Junge vergnügte sich jeden Tag mit einem anderen Baum. Mehr brauchte er nicht. Kein Essen. Kein Schlaf. Keine Träume. Er hatte all das, was er sich vorstellen konnte. Sein Leben schien perfekt.

Eines Tages entschied er sich dafür, nur noch mit einem Plastikbaum zu spielen, weil er zu faul war, sich zu den anderen Plastikbäumen zu bewegen. Er vergnügte sich also mit dem Baum. Kletterte, tobte und balancierte auf ihm herum. Der Plastikbaum blieb unversehrt. Doch irgendwann bog der Junge einen Ast so sehr um, dass er brach. Wie soll man bitte einen Ast aus Plastik brechen, dachte sich der Junge und als er verschrocken zum Plastikbaum rüber sah, bemerkte er, dass sich eine Rinde unter der falschen Plastikschicht befand. Der Junge wusste nicht, was er tun sollte. Er benutze ein Pflaster, um die Rinde vor der puren Kohlenstoffluft zu schützen, die ihn umgab. Der Junge dachte sich nichts dabei und spielte weiter auf dem Plastikbaum. Irgendwann, nach eintausendmal Toben und eintausendmal Klettern fing der Plastikbaum an, sich zu schälen. Der Junge sah die ganzen Wunden, Kratzer und Unreinheiten. Doch die fand er, machten den Baum so einzigartig und so wunderschön. Es ist leicht, in dieser Welt dem Hässlichen einen schönen Platz in der Seele zu verleihen.

Das Spielen wurde intensiver. Die unebenen Äste machten das Klettern interessanter und intensiver. Der Junge empfand zum ersten Mal so etwas wie Müdigkeit. Er baute sich ein Häuschen und ging ins Bett. Spät in der Nacht dann holte ein Schreien den Jungen aus seinem Schlaf. Es war der Baum. Der Junge huschte in den Garten und fragte den Baum, was los sei. Der Baum rief: „Ich brauche Wasser.“ Wasser? Dachte sich der Junge, was soll er damit. Doch anstatt weiter über die Frage nachzudenken ging der Junge zum Fluss, füllte eine Gießkanne mit Wasser und ging zurück zum Baum. Er fragte den Baum, was er damit machen soll. Der Baum antwortete: „Gieß es mir über meine Wurzeln. Ich benötige Wasser zum Überleben.“ Der Junge verstand und tat es. Der Baum bedankte sich und der Junge ging wieder schlafen.

Am nächsten Morgen dann spielte der Junge erneut mit dem Baum. Der Junge fing an, sich zu verletzen. Er bekam selbst Kratzer, Splitte und Narben, doch nach diesen eher unglücklichen Momenten freute er sich nur noch mehr auf das Glück, wieder aufstehen zu können. Er machte neue Erfahrungen und fing an zu wachsen.

Der Junge füllte ganz viele Gießkannen und begoss den Baum jeden Abend vor dem Schlafen gehen.
Eines Morgens kam der Junge zum Baum und bemerkte, dass irgendwelche roten Kugeln an den Ästen hingen. Der Baum sagte: „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Das ist ein Apfel. Pflücke ihn und iss ihn.“ Der Junge blieb erst zögernd stehen. „Vertrau mir“, sagte der Baum.
Also pflückte der Junge einen dieser Äpfel und aß ihn. Der Junge hatte zuvor noch nie etwas gegessen. Und er fühlte sich anschließend besser als jemals zuvor. Also pflückte er sie alle und fing an, Nahrung zu sich zu nehmen. Der Junge schenkte dem Baum Wasser und der Baum belohnte den Jungen, indem er ihn Äpfel schenkte, die er durch das Wasser gedeihen lassen konnte. Die beiden Lebewesen wurden voneinander abhängig.

Doch spüren konnte der Junge das erst nach einiger Zeit. Denn als er länger als zehn Stunden von dem Baum entfernt war, bekam er keine Luft mehr. Das lag daran, dass der Baum Sauerstoff ausstoßt, die die Lunge des Jungen so veränderten, sodass er nicht mehr länger Kohlenstoffabhängig war. Also musste der Junge sich in der Nähe des Baumes aufhalten. Denn er wurde Sauerstoffabhängig. Doch das machte ihn nichts aus. Im Gegenteil. Das machte er gerne.

Es wurde Herbst und das erste Mal wurde dem Jungen kalt, aber nicht nur das. Denn der Baum verlor seine Blätter. Der Junge also kehrte die Blätter weg, damit der Baum sich nicht so dreckig fühlte und seinen verlorenen Blättern nachtrauerte. Dem Baum wurde ebenfalls immer kälter, also strickte der Junge ihm eine Decke. Sie war so groß, sodass sie den ganzen Baum überdeckte. Geschützt vor der Kälte des Winters verbrachten der Junge und der Baum die Zeit unter der großen und gemütlichen Decke mit einem Vorrat an Wasser.

Es wurde Frühling und der Junge war so sehr herangewachsen, dass man ihn schon einen Erwachsenen nennen konnte. Einen Mann.
Der Mann und der Baum spielten weiterhin jeden Tag und ernährten sich gegenseitig von Äpfeln und Wasser. Der Mann lernte eine Menge durch seine Erfahrungen mit dem Baum über das Leben. Der Mann fing an, sich viel mehr Gedanken über Dinge zu machen.

Eines Tages dachte der Mann darüber nach, wie es wohl sein würde, wenn er andere Plastikbäume im falschen plastischen Garten schälen würde? Also tat er das auch. Er schälte drei weitere Bäume, versorg sie mit Wasser und der Apfelbaum freute sich über ein paar weitere Bekanntschaften. Der Apfelbaum war immer noch der beste Freund, den der Mann hatte. Irgendwann gediehen die anderen Bäume jeweils mit Orangen, Birnen und Pfirsichen.  Der Mann pflückte sie alle und lagerte sie in seinem Haus.

Er hatte letztlich mehr Früchte, als er essen konnte. Er hatte mal von einem falschen Plastikmarkt gehört, wo er sie verkaufen könnte um Geld zu bekommen. Also machte er sich auf den Weg und verkaufte die Früchte, um Geld zu bekommen. Er wusste nicht, was dieses Geld war. Aber er mochte den Klang des Wortes und die Art des Blattes. Also lagerte er sein Haus mit diesem Geld, anstatt es mit Früchten zu lagern. Der Mann wollte mehr von diesem Geld. Also brauchte er mehr Früchte. Er schälte jeden einzelnen Plastikbaum, indem er mit ihnen spielte, um Früchte zu bekommen.

Im Sommer dann waren alle Plastikbäume geschält. Er erkannte keinen Unterschied zwischen den Bäumen. Sie wurden ihm alle gleich. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie ihm gleichgültig geworden waren. Der Mann wurde älter, zerbrechlich und bekam Falten an seinem Körper. Er erkannte seinen einst einzigen und liebsten Baum nicht mehr unter den anderen vielen Bäumen.
Doch der Apfelbaum ließ sich das nicht gefallen. Er fühlte sich ausgenutzt und betrogen.
Also vergiftete einen dieser Äpfel, den der alte Mann schließlich pflückte. Eines Abends dann, nach einem harten Arbeitstag gesellte sich der alte Mann ins Bett und aß diesen vergifteten Apfel, weil er so schön schimmerte und somit etwas Besonderes war im Gegensatz zu den anderen Äpfeln. Der Baum wusste, dass er sich dadurch umbringen würde, weil niemand mehr da war, der ihn mit Wasser ernährte. Aber das war wohl Liebe. Er handelte aus Eifersucht zu den anderen Bäumen. Und wenn er ihn schon nicht für sich haben konnte, dann sollte ihn keiner haben. Diesen alten Mann, der einst so ein schöner Mann war. Und um das zu erreichen, grub der Baum auch sein eigenes Grab. Denn der Mann war nicht mehr das, was er einst gewesen ist. Er ist nun das, was man in dieser falschen plastischen Welt einen „Menschen“ nennen würde. Habgierig, egoistisch und gefühllos. Und solche Menschen konnte der Baum überhaupt nicht vertragen. Um den alten Mann bildete sich eine falsche Plastikschicht, die ihn oberflächlich machte. Und so starb er auch. Tief im Innern war es der Junge, der schrie und litt, doch der Mensch gab keinen Ton von sich, als er schmerzhaft an dem Gift starb. Letztlich starben auch alle anderen Bäume, weil sie kein Wasser bekamen. Es gab keinen falschen plastischen Garten mehr, sondern ein Friedhof voller Erinnerungen, die den Ort menschlich machten.

Und wenn der Mann nicht soviel nachgedacht hätte, wäre er kein Kapitalist geworden, dann wäre er auch kein Mensch geworden und würde wahrscheinlich noch heute mit dem Apfelbaum leben und an Erfahrungen gedeihen.


1 Kommentar:

  1. Wow, ich stehe total auf diese philosophischen Gedanken in deinem Blog - toll! :D

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